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Presse / Publikationen / 2015_2023 /  

Der gefühlte Vizekanzler

Die tatsächliche und auch die gefühlte Übermacht der Großkoalitionäre (Groko) im Bundestag ist so gewaltig, dass die sie bildenden Unionisten und Sozialdemokraten gleich beide Parlamentsfunktionen übernommen haben: Regierung und Opposition.
 
Über diverse Geplänkel und verbale Raufereien um Vorschläge für eine befristete Familienarbeitszeit bis hin zum flächendeckenden Mindestlohn wird vornehmlich auf Feldern gestritten, wo es um die Verteilung von weiteren Wohltaten und weniger um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes und die Stärkung seiner Leistungskraft geht. Gegen die „Rente mit 63“ polemisiert neuerdings auch der während der Koalitionsverhandlungen sich noch verdächtig bedeckt gebende Bundesminister a.D. und ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering, der vielleicht auch noch ein persönliches Hühnchen mit seiner Nachfolgerin im Arbeits- und Sozialministerium, Andrea Nahles, zu rupfen hat.
 
Auftritt Oettinger, Abgang Gabriel
 
Zukunftsrelevante Themen aber wie die Windenergieparks, vor allem Offshore, stecken in einer Krise. Doch zur Gestaltung der Energiewende, einer realistischen Neuausrichtung des überhasteten Atomaus- und des Umstiegs auf die erneuerbaren Energien und einem Konzept für eine sinnvolle Integration und vor allem auch zu einer Modernisierung der vorhandenen Gas- und Kohlekraftwerke hört man noch wenig. So drohen Industrie und Verbrauchern weiter ein Strompreisdebakel und Versorgungsengpässe durch instabile Netze mit erheblichen Auswirkungen auf den Industriestandort Deutschland. Ganz zu schweigen von der ungelöst schwelenden Frage der Endlagerung des atomaren Mülls.
 
Gegen die steigenden Energiekosten laufen zwar die Wirtschaftsverbände sowie die den Unionsparteien nahestehenden beziehungsweise in ihr beheimateten Wirtschafts- und Mittelstandsvereinigungen Sturm, doch finden diese Klagen in der Regierung noch nicht viel Gehör und verfügen im Parlament über kein profiliertes Sprachrohr. So obliegt es dem für die Energiepolitik zuständigen EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU), begleitet von brausendem Applaus bei Veranstaltungen des Wirtschaftsrats der CDU oder auf Verbandsveranstaltungen wie der BDI-Jahrestagung, das „Erneuerbare Energien-Gesetz“ als nicht mehr zeitgemäß zu attackieren und energisch dessen grundlegende Reform zu verlangen. Oettinger opponiert dabei so massiv und wortgewaltig, dass er nach dem Abgang von Friedrich Merz und Roland Koch von der politischen Bühne zu einem ordnungspolitischen Hoffnungsträger in der Union heranwächst.
 
Nach seinem Auftakterfolg bei den Koalitionsverhandlungen und der virtuosen Handhabung der SPD-Mitgliederbefragung scheint Vizekanzler und Superminister Sigmar Gabriel aber erst einmal wieder abzutauchen. Im Stillen bastelt der seine Vaterrolle profilierende SPD-Chef an einem Energiewendekonzept, das er allerdings erst zu Ostern und dann vielleicht als Überraschungsei präsentieren will. Einstweilen überlässt Gabriel die Bühne dem CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer und der bayerischen Kronprinzessin, Landeswirtschaftsministerin Ilse Aigner, die als Duo gekonnt das Stück „Regierung und Opposition in einer Partei“ zum Besten geben.
 
Der gefühlte Vizekanzler
 
Während Kanzlerin Angela Merkel sich verletzungsbedingt schonen und vorläufig auf Reisen und große öffentliche Auftritte verzichten muss, sucht Außenminister Frank-Walter Steinmeier publikumswirksam aus dem Windschatten der Regierungschefin herauszutreten. Gefühlt hat Steinmeier wieder die Vizekanzlerschaft übernommen. Mit seinem unaufgeregt souveränen Stil füllt er das Außenamt wieder mehr aus, als dies seinem Vorgänger Guido Westerwelle und auch ihm selbst zu Zeiten der ersten GroKo der Ära Merkel gelungen war. Aus den Erfahrungen der Jahre 2005 bis 2009 scheint Steinmeier gelernt zu haben und sich vom Kanzleramt nicht mehr in eine dienstbare Statistenrolle drängen zu lassen.
 
Die im Bundestag vertretenen Grünen und die Linkspartei aber wollen sozialpolitisch und ökologisch eher noch draufsatteln und blasen mit einem die GroKo übertrumpfenden Impetus vehement in das Horn der Regierung. Da aber, wo die Regierung den Front-Runner macht und Ministerin Ursula von der Leyen Familienförderung und Kinderbetreuung auch bei der Bundeswehr einführen will, bleibt der links überholten parlamentarischen Opposition nur, verzweifelnd die Finanzierbarkeit der angeregten Maßnahmen zu bezweifeln.
 
Denn die ambitionierte neue Verteidigungsministerin gibt auch in ihrem neuen Amt sofort weiter Gas. Kaum im Bendlerblock angekommen, avanciert von der Leyen schon zur an- und auch ansonsten mutigen Mutter der Kompanie und verbindet Sicherheits- mit Familien- und Arbeitsmarktpolitik. So schauen professionelles Agendasetting und gekonntes Themenplacement aus.
 
Nur im Parlament gehen die Lichter nach einer kurzen Phase pseudoanarchischer Selbstständigkeit während des Findungsprozesses der GroKo wieder aus. Große Debatten mit freier Rede und argumentativem Schlagabtausch finden dort schon lang nicht mehr statt. Mag sein, dass es einerseits an rhetorischem Talent und hinreichender Befähigung zur Kunst der freien Debatte mangelt und dass andererseits der politische Mainstream eher eine Opportunitäts-, denn eine Oppositionskultur befördert hat. Die vorherrschende political Correctness scheint viele Scheren in die Köpfe implementiert und manchen Mund zugenäht zu haben.
 
Nun verzichtet die Regierung sogar vorerst auf eine ordentliche Erklärung und das Parlament findet sich damit ab. Die Produktion von „Überschriften“, die die Restopposition aus Grünen und Linkspartei außerhalb der GroKo der Verteidigungsministerin ankreidet, ist nach wie vor nicht gebündelt; eine inspirierende Headline mit einem integrierenden Motto fehlt ebenso wie ein Esprit der neuen Ära, die noch wenig Aura hat.
 
Lindner und Lucke, die Chefs der außerparlamentarischen Oppositionsparteien FDP und AfD, wird es freuen. Sie können mit Blick auf die Europawahl am 25. Mai Volkes Unmut über den Fehlstart von Regierung und Opposition und die gähnende Ödnis im Bundestag auf ihre Mühlen leiten und nachweisen, dass im Parlament ohne den parteipolitisch organisierten Liberalismus und ein wenig organisierte Anarchie kein Pfeffer in die politische Debatte kommt und die Regierung nicht unter Druck gerät. Ersatzweise stellt die GroKo sich gleich selbst als Regierung und Opposition vor und verlagert die parlamentarischen Debatten ins Kabinett. Dann aber sollten dessen Sitzungen auch so öffentlich sein, wie es die ersatzweisen Miniparlamentsspektakel in den Talkshows schon sind.
 
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von Richard Schütze
   
 
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